SELFWARE.surface

Die Fassade des Palais Thienfeld in Graz wurde temporär zu einem vertikalen Wohnobjekt adaptiert. Im Zwischenraum von Öffentlichkeit und Privatheit schufen Architekturstudierende der Technischen Universität Wien ein System, das als Wohnung funktionierte und durch die Veränderungen an der Fassade die Identität des Palais temporär veränderte und Thema Wohnen öffentlich erarbeitete.

Im 5. Stock am Sonnendeck steht ein Kinderplanschbecken, liegend blickt man zwischen den Palmen hindurch in die Gassenflucht der Griesgasse und beobachtet Passanten. Immer wieder finden spontane Besucher den Weg durch die Zweitfassade bis auf diese 10 Meter hoch gelegene Ebene und sind von der Exponiertheit beeindruckt – Schwindelfreiheit und die Erklärung zur Benutzung auf eigene Gefahr vorausgesetzt. Der Weg führt an einer Motorradwerkstätte im 4. Stock vorbei – die Mopeds gelangen per Flaschenzug zum Tunen – die Werkstatt wird zur Lounge und umgekehrt. Work in Progress ist die Devise, denn fertig kann ein derart verschachteltes System nie werden. Auf sämtliche physischen und psychischen Notwendigkeiten wird Rücksicht genommen, eine Toilette mit Wasserspülung befindet sich abgelegen hoch über dem Südtiroler Platz. Das Bad mit Dusche, teilweise aus transluzenten Materialien gefertigt, leuchtet nächtens klar erkennbar. In unmittelbarer Nähe liegen „Schlafrohre“, die innen verschieden – kitschig oder rustikal – ausgestattet sind. Sie bieten als Einpersonenschlafgelegenheiten optimalen Schutz vor morgendlichem Straßenlärm. Kopfseitig schafft eine Acrylglasluke einen Rundblick. Das Ganze ist bei einem Durchmesser von lediglich 65 cm aber nur für Personen ohne Klaustrophobie geeignet. Eine Ebene tiefer befindet sich eine „Liegewiese“, nur mit einem Fangnetz räumlich begrenzt, der ideale Ort zum Chillen und Schlafen, sommerliche Trockenheit ist von Vorteil.

Über eine schmale Treppe im Freiraum zwischen bestehender und temporärer Fassade gelangt man in die Küche mit auskragendem Holzkohlegrill. Hier kümmert man sich um das leibliche Wohl der Bewohner und Gäste. In der angrenzenden Lounge mit Platz für DJs und VJs beginnt der eigentliche Besucherbereich, der ebenerdig durch eine rote Sitz- und Liegewelle artikuliert wird. Als Dienstleistung ist der „Beautysalon“ im Erdgeschoss zu verstehen, mobiles Mobiliar sollte den Friseur oder Masseur in die Mitte des Platzes transferieren. Ans Arbeiten in digitalen Welten wird auf der Küchenebene gedacht, drei beschattete Computerarbeitsplätze mit besonderer Beinfreiheit dienen dem Workflow.

An der Oberfläche kratzen, dem Schein einer Fassade ihr Sein zurückgeben.

Mit dieser und ähnlichen Fragen beschäftigten sich die beinahe 40 Architekturstudierende bei der Entwicklung des Projektes SURFACE im Rahmen eines Entwurfsprogramms am Institut für Wohnbau und Entwerfen. Im Spannungsfeld zwischen einer Intervention im öffentlichen Raum und einer begehbaren Wohnlandschaft wird SURFACE zu einem irritierenden Anziehungspunkt im Stadtzentrum der Kulturhauptstadt Europas 2003. Im Mittelpunkt stehen Überlegungen zur Entfremdung und Adaption der bestehenden Fassade und damit verbunden, die Diskussion deren identitätsstiftenden Funktionsweisen und deren Interaktion in der Öffentlichkeit.

Im Rahmen ihrer Architekturausbildung erarbeiten sich die StudentInnen bei der Realisierung eines solchen 1:1 Objektes wesentliche Erfahrungen, die in unmittelbarem Bezug zu ihren späteren Aufgabengebieten stehen. Der gruppendynamische Prozess des Teamworks lässt qualitative wie theoretische Diskussionen entstehen, die quasi öffentlich ausgetragen werden und das außerhalb des schützenden universitären Rahmens.

Ausgangspunkt war die spätbarocke Fassade des Palais Thienfeld in unmittelbarer Nähe zur Baustelle des Grazer Kunsthauses. Thematisch versuchten die Studierenden funktionale Interventionen am Gebäude zu entwickeln, die das Erscheinungsbild und den eigentlichen Charakter des Palais temporär entstellen oder auch ergänzen sollten. Der sich über vier Wochen erstreckende Entwurfsprozess war kurzfristig von der Frage geprägt, wie funktional oder konzeptionell ein solcher Eingriff vor Ort wahrnehmbar sein soll und war damit verbunden, die Unsicherheit der Umsetzung eines modulhaften Konzeptes oder einer sich aus einer einzelnen Idee entwickelnden Gesamtlösung zu überwinden. Man einigte sich und setzte konsequent auf die Errichtung einer bewohnbaren zweiten öffentlichen Haut. Als konstruktive Basis diente ein flexibles Gerüstsystem, das in der Folge mit speziell vorgefertigten Modulen bestückt wurde. Prämisse war, sämtliche Funktionen des täglichen Lebens, in vertikaler Form, in der Zweitfassade unterzubringen. Im Erdgeschoss wurde noch eine Einheit für Obdachlose integriert, die jedoch mehr symbolischen als funktionalen Wert hatte.

Die Prozesshaftigkeit des Projektes war durch das Engagement der Studierenden wesentlich geprägt. Sämtliche baulichen Maßnahmen und Einbauten wurden von den StudentInnen eigenständig geplant, gebaut und montiert. Zusätzlich musste ständig auf das Minimalbudget Rücksicht genommen werden. Der ganzheitliche Charakter des Projektes war für alle Beteiligen eine Herausforderung, die zusätzlich durch den Öffentlichkeitsanspruch entsprechend forciert wurde. Jedes der Module erhielt durch die individuelle Bearbeitung seinen eigenen Charakter mit unterschiedlichen Qualitäten.

Einerseits entstanden in einer temporär gemieteten Werkstatt in Wien die ersten realen Versuche, andernorts wurde gleichzeitig an technischen Details gefeilt sowie nach kooperierenden Sponsoren gesucht. Die Gleichzeitigkeit der Handlungsabläufe war symptomatisch für den Entwicklungsprozess, schließlich musste ein schneller direkter Weg vom Entwurf zur tatsächlichen Umsetzung gefunden werden, der keinesfalls selbstverständlich ist. Auch war keinem der Beteiligten das Ausmaß dessen bewusst, was es bedeutet, in der Öffentlichkeit zu arbeiten und in der Folge zu wohnen. Bereits in der Errichtungsphase war das Projekt unter Schaulustigen begehrt, auf der einen Seite beobachteten Architekten des Kunsthauses von der gegenüberliegenden Fassade die skurrilen Baumaßnahmen, auf der anderen Seite konnten die Handwerker der selben Baustelle nicht fassen, dass junge Frauen am Bau aktiv mitwirken. Ganz zu schweigen vom dahinter stehenden Voyeurismus.

Experimentelle Tendenzen und interdisziplinäre Projekte in der Architekturlehre fördern den allgemeinen Umgang mit Gebautem und sensibilisieren die Wahrnehmung der Beteiligten gleichermaßen wie jene der Passanten. Welche Aufgaben kann eine Fassade außer Ästhetik und Prestige noch aufnehmen oder welche versteckten Vorgänge befinden sich hinter ihr? Die interpretierte Offenlegung von Funktionsmechanismen und deren reale Umsetzung bzw. Benutzung erwies sich als gelungenes Experiment im öffentlichen Raum. Mehr als 10.000 staunende Besucher durchkreuzten SURFACE während der dreiwöchigen Bespielung. „Pfadfinderlager downtown“ – eine kolportierte Metapher zu SELFWARE.surface.

 

SELFWARE.surface ist Bestandteil des Projektes SELFWARE.politics of identity der Kulturhauptstadt Graz 2003.

Jahr 2003
ProjektbeteiligtePeter Fattinger, Michael Rieper
Links www.wohnbau.tuwien.ac.at
www.selfware.at
www.graz03.at
Typ Architektur, Ausstellung, Urbanismus
MVD Michael Rieper